Massenheimer Auenkunst

Titus Lerner: Häutung XIV

Titus Lerner: Häutung XIV., Bronze, 2013

Ideal spiegelt Titus Lerners Werk das Motto der Auenkunst wider: Eine Ausstellung in Bewegung, die neue Perspektiven eröffnet. Sein Werk sucht den Dialog mit dem Betrachter und fordert ihn regelrecht auf, mitzugehen. Und dies in vielfältigem Sinne. Zunächst auf seinem künstlerischen Werdegang:

Der seit 1978 freischaffende Bildhauer, Maler und Zeichner, der eine unendliche Zahl von Einzel- wie Gruppenausstellungen mit Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum – neben Seoul – nachzuweisen hat und u. a. regelmäßig Teilnehmer der bedeutenden Kunstmesse „art Karlsruhe“ ist, wo ich ihn entdeckt habe, hat mit einer beeindruckenden Konsequenz sein Bildthema über die Jahrzehnte entwickelt.

Dieses begegnet einem plakativ bei einem Besuch seines Künstlerateliers in der Eifel: Vielfältige Terrakotta-, Marmor-, Alabaster- und Sandstein-Skulpturen begrüßen einen eng gruppiert – neben großformatigen farbgewaltigen Gemälden und zeigen die Konzentration auf den Menschen, seine Körperlichkeit, seine existenzielle Situation, seine seelische Verfasstheit. Titus Lerner sieht seine Arbeit als „ein Forschungsprojekt am Menschenbild, das nie aufhört.“

Wie sieht dieses Forschungsprojekt aus?

Lerner fragt nach dem Wesen des Menschen, unseren existenziellen Grundbedingungen und ist überzeugt, dass er sie in unserer physisch-kreatürlichen Gebundenheit zu suchen hat.

Für Lerner ist der Mensch ein authentischer Ausdrucksträger mannigfaltiger Gefühle, Handlungen oder Empfindungen. Einsam und nackt präsentiert sich unsere Figur „Häutung“ als Heroine der Moderne: Sie ist dem Typischen entwachsen, sucht nach Haltung und Gleichgewicht und zeigt ihr menschliches Vermögen, positive Entwicklungen zu beginnen. Das Risiko des Scheiterns schwingt zwar mit – ihr ausschreitendes Bein ist gleichzeitig noch mit ihrer alten Hülle verbunden, die sie zu überwinden trachtet -, aber dies ist Teil unserer menschlichen Existenz. „Welt“ und „Sein“ ist nicht etwas Gegebenes, sondern Horizonte eröffnen sich, die immer wieder neue Horizonte produzieren, um mit dem Philosophen Gadamer zu sprechen.

In dieser Hinsicht wirkt Lerner mit seiner Kunst Sinn stiftend: Seine weibliche Figur schreitet mit klarem Ernst voran, zeugt von innerer Festigkeit und Kraft und stellt sich ohne triumphale Geste der Komplexität des Lebens und der existenziellen Herausforderungen. Sie ist uns verwandt, doch zugleich auch entrückt, würdevoll gefasst und hält ihren Blick fest auf einen offenen Horizont gerichtet. Damit hält sie mehr Fragen als Antworten bereit.

Darin liegt ihre Größe: Sie besinnt sich auf ihre conditio humana, distanziert sich momenthaft von ihren Selbstentwürfen, an die sie dennoch gebunden bleibt. Damit vermittelt sie uns als Betrachter das Wissen um die Komplexität der menschlichen Natur. So leistet Lerners Kunst in unserer „sprachverwirrten“ Welt einen Beitrag, das „Sein“ zu verstehen und bietet uns Orientierung. Und dies mit handwerklicher Meisterschaft.

Lerner verleiht seinen komplexen Reflexionsfiguren eine nachdrückliche sinnlich-haptische Präsenz, die uns bannt und uns auf uns selbst zurückwirft. Wie?

Seine Figur durchläuft nicht nur thematisch, sondern auch plastisch eine Metamorphose. Lerners Figur zwingt uns durch ihre Nacktheit auf das Elementare. Aus der Fülle und Kompaktheit schält er alles Wesentliche und eliminiert alles Übrige – ganz aus seiner Vorstellung heraus, der Mensch sei ein formbares Wesen. Schwere und Leichtigkeit halten sich die Waage; Licht und Schatten sind Verbündete seiner Dramaturgie: Lerner löst die ursprüngliche Kompaktheit seiner Figuren auf, charakterisiert den Menschen in seiner Reduziertheit, verwirft expressive Physiognomie oder Mimik zugunsten einer Fragmentierung, indem er seine Figur in verschiedene räumliche Stadien zerlegt. Und damit die Frage nach dem Verhältnis von Raum und Zeit aufwirft.

Wir wissen: Spätestens seit der Moderne, dem Kubismus und Einstein hat sich das Verhältnis von Raum und Zeit fundamental verändert. Lerner visualisiert für uns die Vielfalt der Wahrnehmungsmöglichkeiten und hebt „Raum und Zeit“ in seiner Figur auf: Durch die Bewegung der menschlichen Gestalt, ihre Fortbewegung in der „Zeit“, entsteht der Raum, den wir wahrnehmen. Mit der Bewegung im Raum macht Lerner das Prozesshafte unseres Seins sichtbar und zwingt uns mit der Verführungsgewalt der Kunst zur Wiederbegegnung mit uns selbst und unseren existenziellen Grundbedingungen.

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